Scroll Top

Argumente gegen Speziezismus und für evolutionäre Kontinuität

„Ich habe betont, dass die wahrgenommenen Unterschiede der Organisation von Gefühlen und Emotionen im Gehirn von Tier und Mensch wahrscheinlich auf Artefakten beruhen anstatt auf einer realen Kluft zwischen Primaten (Menschen eingeschlossen) und anderen Säugetieren. Aber das soll nicht etwa heißen, dass es überhaupt keinen echten Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren gäbe. Es mag tatsächlich einen echten Unterschied in der Organisation des Gehirns in Bezug auf Emotionen geben. Wenn das so ist, dann ist dieser aber nur quantitativ und relativ gering – jedenfalls kein qualitativer oder massiver Unterschied." (Berridge 2003, S. 41)

„Neurale Substrate für Gefühl und Emotion sind über das gesamte Gehirn verteilt, von vorne bis hinten und von oben bis unten. Es sind dieselben Gehirnstrukturen, die bei affektiven Reaktionen sowohl von Menschen wie auch anderen Lebewesen betroffen sind." (Berridge 2003, S. 42)
(aus: Berridge, K. (2003) ‘Comparing the emotional brains of humans and other animals.’ In Handbook of Affective Sciences, edited by R. J. Davidson, K. R. Scherer, and H. H. Goldsmith, Oxford University Press, New York. Pp. 25-51)

Nun, wie ist es mit dem Speziezismus? Sind wir wirklich die einzige Spezies, in der sich Emotionen entwickelt haben? Es geht nicht um „jene" versus „uns". Über Jahre hinweg hat man eine Vielzahl von Kriterien benutzt, um „jene" von „uns" abzugrenzen: Werkzeuggebrauch, Sprache, Kultur, Rationalität, Bewusstsein, ein Gefühl für das Selbst – und alle schlugen fehl. Vielleicht sind wir die einzige Spezies, welche die Nahrung kocht. Es gibt Unterschiede, aber es gibt auch viele Ähnlichkeiten zwischen Menschen und nicht-menschlichen Tieren. Die evolutionäre Kontinuität muss unbedingt in Betracht gezogen werden, der Gedanke, dass es eher Unterschiede im Grad, nicht aber in der Art der grundsätzlichen Verhaltens-Phänotypien und der kognitiven und emotionalen Kapazitäten zwischen Tieren und zwischen Menschen und anderen Tieren gibt. Diese Idee kommt aus der Abstammungslehre von Charles Darwin, nach der es diesen großen trennenden Unterschied, so wie er von manchen vertreten wird, nicht gibt.

Vor einigen Jahren fand ich im angesehenen Journal „Science" folgendes Zitat: „Mehr als jede andere Spezies sind wir die Nutznießer und auch die Opfer eines Reichtums an emotionalen Erfahrungen." Professor R. J. Dolan, der das schrieb, kann nicht wissen, dass diese Behauptung wahr ist. Es könnte tatsächlich sogar so sein, dass andere Tiere viel lebhaftere Emotionen erfahren als wir. Diese Art von Humano-Zentrismus ist es, die das Studium von Gefühlen bei Tieren belastet. Warum sind wir so etwas Besonderes, warum sind wir so tief empfindende Lebewesen, während andere es nicht sein sollen? Ich kann nur schwer akzeptieren, dass wir der Standard sein sollen, an dem die anderen gemessen werden. Schauen Sie sich nur den Zustand der Welt von heute an!

Man kupiert Schweinen die Schwänze, nicht wahr? Fühlt ein wimmernder Hund etwas? Wem machen wir etwas vor?
Ganz sicher fühlt ein wimmernder oder ein spielender Hund etwas oder ein Schimpanse in einem winzigen Käfig oder wenn er den Verlust eines Freundes betrauert. Auch ein kleines Ferkel, wenn man ihm das Schwänzchen abschneidet – „kupiert", wie diese grauenvolle und unentschuldbare Prozedur genannt wird – oder seine Zähnchen bis auf den Grund abschleift, empfindet etwas. Jüngste Forschungsergebnisse belegen, dass mit dem Kupieren chronische Schmerzen verbunden sind (Settling Doubts About Livestock Stress, 2005). Ist das etwa wirklich eine Überraschung? Wem wollen wir da etwas vormachen? Kühe können launisch und nachtragend sein, aber auch Freundschaften pflegen. Ist das wirklich eine Überraschung? Tiere sind keine gefühllosen Objekte. Sie mögen es nicht, wenn man ihnen Angst einjagt, sie aufschneidet, verhungern lässt, ankettet, betäubt, sie in winzige Käfige zwängt, fesselt, sie von ihren Familien und Freunden fortreißt oder sie isoliert. Zahlreiche Schweine (und andere „Nutztiere") werden täglich in Agrar-Fabriken misshandelt. Wissenschaftliche Forschung beweist, dass Schweine unter Stress, Angst und Depressionen leiden. Sicherlich ist es kein großer Schritt bis zu der Erkenntnis, dass sie ihre Schwänze nicht abgeschnitten und ihre Zähne nicht abgeschliffen haben mögen. Ihr jämmerliches Quieken sagt doch alles – oder etwa nicht? Natürlich sind die Gefühle von Tieren nicht unbedingt mit unseren identisch, und es gibt auch keinen Grund dafür anzunehmen, dass es so sein müsse. Auch ihre Herzen und Mägen und Gehirne unterscheiden sich von unseren und von denen anderer Spezies, aber das hindert uns nicht daran zu sagen, DASS sie Herzen, Mägen und Gehirne haben. Und so gibt es auch Hunde-Freude, Schimpansen-Freude und Schweine-Freude genauso wie Hunde-Kummer, Schimpansen-Kummer und Schweine-Kummer …

Nichts als billige Ausreden …
Einige Leute rechtfertigen das, was sie den Tieren antun, damit, dass sie es im Namen der Wissenschaft oder im Namen von diesem oder jenem tun. Das ist inakzeptabel. Es gibt überhaupt keinen Grund, weiterhin Milliarden von Tieren zu schaden oder sie zu töten. Eine billige Ausrede lautet häufig: „Ich tue das, weil es keinen adäquaten Ersatz für Tiere gibt." Diese Ausrede hat keine Überzeugungskraft, denn zahlreiche Organisationen listen Ersatzlösungen ohne Tiere auf. Diese erfüllen sicherlich einen höheren ethischen Anspruch und sind mindestens genauso wenn nicht nützlicher in der Ausbildung sowie kostengünstiger. Und natürlich gibt es Beweise genug dafür, dass viele wissenschaftliche Versuche ohne Tiere mindestens gleich gute oder sogar bessere Resultate hervorbringen als Versuche mit Tieren.

Anm. d Redaktion: Nach einer Meldung der dpa und APA vom 2. Mai 2006 soll „die Stammzellforschung in den kommenden Jahren Hunderttausende Tierversuche in der Chemie-Industrie und beim Konsumentenschutz ersetzen. Der TÜV Rheinland hat in Düsseldorf ein Verfahren vorgestellt, mit dessen Hilfe die Gefährlichkeit von Chemikalien schneller und kostengünstiger als mit herkömmlichen Methoden überprüft werden kann." Durch das neue Verfahren kann in einem Reagenzglas mit Zellkulturen nachgewiesen werden, ob ein Stoff Zellen schädigt. Siehe auch Seite 7 in diesem Heft. Die Dinge sind also in Bewegung, halten wir sie in Diskussionen am Laufen!

Im nächsten WUFF geht es im Essay von Dr. Marc Bekoff unter anderem darum, dass der amerikanische Wissenschaftler meint, dass wir eigentlich den Spieß umdrehen müssten und Skeptiker dazu zwingen, dass sie beweisen müssen, dass Tiere keine Gefühle haben, anstatt dass immer wieder wir beweisen müssen, dass sie Gefühle haben.

WUFF INFORMATION

Speziezismus
Speziezismus (von Spezies – Art, Tierart) ist ein auf den britischen Psychologen Richard D. Ryder (geb. 1940) zurückgehender Begriff, den er 1970 erstmals in einem Flugblatt über Tierrechte gebrauchte. Ähnlich dem Begriff Rassismus soll mit Spezie-zismus die Einstellung der Spezies Mensch bezeichnet werden, anderen Spezies (Tierarten) keine moralischen, rechtlichen oder sonstigen Interessen zuzubilligen. Bekannt wurde der Begriff dann durch das 1975 erschienene Buch „Animal Liberation" des australischen Philosophen Peter Singer (geb. 1946), der als Begründer der modernen Tierrechtsbewegung gilt.

WUFF STELLT VOR

Dr. Marc Bekoff
Der Autor ist Universitätsprofessor für Ökologie und Evolutionsbiologie an der University of Colorado in Boulder. Er hat bisher 18 Bücher veröffentlicht. Sein neuestes Buch, Encyclopedia of Animal Behavior, erschien im Dezember 2004. Seit über 2 Jahren schreibt Dr. Bekoff in WUFF Essays über seine Arbeit und seine Gedanken zu Tieren.

• Encyclopedia of Animal Behavior. (Dezember 2004) 1200 Seiten in 3 Bänden. Preis 349.95 Dollar plus Versand. ISBN 0-313-32745-9. Greenwood Publishing, www.greenwood.com