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Die Tragödie von Rüsselsheim – Polizei erschießt freilaufende Hunde in Fußgängerzone

In Rüsselsheim wurden am Dienstag, den 23. 9. 2014 am Morgen die beiden ­American Staffordshire Terrier namens Kimbo und Tays von der Rüsselsheimer Polizei erschossen. Seither haben sich in der 60.000 Einwohner-Stadt ­Hessens die Gemüter nicht mehr beruhigt. Von grausamer Hinrichtung ist die Rede. Die Stadt ist ein sozialer Schmelztiegel.

Der Anteil ausländischer Staatsangehöriger liegt in Rüsselsheim bei rund 24%, der Anteil deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund allerdings bei 53%. Auch die Halter der beiden erschossenen Hunde – Kimbo und Tays – gehören dieser Bevölkerungsgruppe an. Diese Tatsache und das Auftauchen eines Videos – Passanten filmten mit und stellten das Video ins Netz – erklärt, warum der Fall so polarisiert.

Der Fall hat im Internet zu einem Shitstorm gegen die Polizei geführt, Tausende Menschen haben im Netz gegen die Erschießung der ­beiden Hunde protestiert. Die ­Bürger ­Rüsselsheims sind in zwei Lager gespalten. Im Netz entbrannte eine wütende Diskussion. War die Tötung der Staffordshire Terrier Kimbo und Tays wirklich nötig? Ja, sagt die ­Polizei. Die Tiere liefen herrenlos durch die Straßen und griffen Passanten an. Nein, sagen die anderen. Die Hunde waren ganz lieb und spielten nur mit einem Pizzakarton, man hätte sie einfangen oder auf die Ankunft der Halter warten können.

Liest man den Polizeibericht durch, dann steht da ganz trocken zu lesen, dass Gefahr im Verzug gewesen sei und die Hunde – nachdem sie zwei Menschen gebissen hätten – erschossen wurden, um eine weitere Gefährdung von Menschen auszuschließen. Um 07:40 war die Polizei von ­Anrainern alarmiert worden, nicht ganz eine Stunde später waren Kimbo und Tays tot.

In dem im Netz zirkulierenden Video ist etwa 1 Minute Geschehen dokumentiert, und zwar die dramatischen Momente, in denen die beiden Hunde erschossen wurden. Man hört Schüsse, man hört Jaulen, man sieht einen Schützen und man sieht sterbende Hunde. Diese Minute Video tut weh. Die Frankfurter „Neue Presse“ stellt zwei Tage später die Frage: „Schossen Polizisten zu schnell auf die Hunde?“ Das kann vermutlich nur eine genaue Untersuchung des Tathergangs sagen, eine solche gibt es aber noch nicht. Es gibt nur einen Polizeibericht ohne genauen Zeitablauf. Von „etwa einer Stunde“ ist da die Rede. Was aber genau in der Stunde passierte, da scheiden sich die Geister. Wie die Darmstädter Staatsanwaltschaft „HR Online“ mitteilt, sind wegen des Vorfalls bereits mehrere Anzeigen eingegangen. Auch der Rüsselsheimer Oberbürgermeister bekommt laut Eigenaussage wegen der Angelegenheit derzeit Post „aus der ganzen Bundesrepublik“. Das zeigt, die Menschen wollen Aufklärung, sie wollen wissen, was wie und warum passiert ist.

Nimmt man einen Querschnitt aus dem Polzeibericht, der Stellungnahme des Tierheims, den Medienberichten und allen Informationen, die im Netz gepostet wurden, ergibt sich folgendes Bild:

Die beiden Halter der 18 Monate alten Hundebrüder, Osman S. und David B., haben Kimbo und Tays schon von Welpenbeinen an vor ihrem Shisha-Lokal in der Fußgängerzone von ­Rüsselsheim spielen lassen. Sie sagen, ihre beiden Hunde waren ausgesprochen menschenfreundlich, die Anrainer, aber auch die Passanten hätten die beiden geliebt, und Kinder hätten mit ihnen gespielt. Kimbo und Tays haben den in Hessen vorgeschriebenen Wesenstest sehr gut bestanden, was den Aussagen von Osman und David Recht zu geben scheint. Allerdings, in Hessen sind Kimbo und Tays Hunde, für die „eine Gefährlichkeit vermutet wird“. Das bedeutet, Osman und David mussten jede Menge Au­flagen erfüllen, um die beiden American Staffordshire Terrier überhaupt halten zu dürfen. Die Erlaubnis zum Halten eines „gefährlichen Hundes“ darf nur erteilt werden, wenn der Halter das 18. Lebensjahr vollendet hat, zuverlässig und sachkundig ist, eine positive Wesensprüfung für den Hund nachweisen kann, den Hund artgerecht hält und die erforderlichen Maßnahmen trifft, damit von ihm keine Gefahren für Leben, Gesundheit, Eigentum oder Besitz ausgehen. Chip und Haftpflichtversicherung sowie Hunde­steuer sind ebenfalls obligatorisch.

Gegensätzliche Meinungen
In der Fußgängerzone, wo die ­beiden Hunde immer wieder vor dem Geschäft spielten, gilt Leinenpflicht, an die sich Osman und David nicht gehalten zu haben scheinen. Bei ­Welpen ist die Umwelt sehr nachsichtig, werden die Hunde aber größer, dann verändert sich das. Es erklärt die sehr unterschiedlichen Aussagen von Anrainern, die nach der Erschießung der Hunde interviewt wurden. Die einen fanden Kimbo und Tays „lieb“, die anderen fürchteten sich bereits vor dem halbstarken Brüderpaar. Osman und David haben am Vorabend der Erschießung ihre Hunde im Shisha-Lokal gelassen. Laut Osman sollten die Hunde dort aufpassen, jedenfalls sagt er das gegenüber der Presse. Gassi TV hat die beiden Hundehalter in ihrem Lokal interviewt. Man sieht eine geschlossene Bar, die innen völlig leer ist. Man fragt sich unwillkürlich, worauf die Hunde hätten aufpassen sollen. Angeblich seien im Laufe der Nacht Einbrecher gekommen, die die Tür aufgebrochen haben sollen, und so wären die Hunde frei gekommen.

Die Ereignisse überschlagen sich
Um 7:40 jedenfalls bekommt die Polizei einen Anruf, der sie über die beiden freilaufenden Hunde in der Fußgängerzone informiert. Ein erstes Einsatzkommando kommt vor Ort. Sie versuchen die Hunde einzufangen, dieser Versuch scheitert jedoch. Vor Ankunft der Polizei und den darauf folgenden Einfangversuchen ­sollen laut Zeugenaussage von Tamara Büthe – welche die Mobilfunk-Filiale gegenüber der Shisha-Bar leitet – die Hunde ruhig und friedlich gewesen sein. Es mag sein, dass die misslungenen Versuche, der Hunde habhaft zu werden, die Situation immer mehr eskalieren ließen. Ein 41-jähriger Rüsselsheimer, angeblich der „Onkel“ der Halter, kommt vorbei. Er hilft der Polizei, die Hunde einzufangen. Das geht gründlich schief. Er wird in die Hand gebissen, seine Wunden werden später im Krankenhaus versorgt. Angeblich soll er versucht haben, den ihm bekannten Hund hochzuheben, dabei wurde er vom anderen gebissen und musste sich gemeinsam mit den Polizisten in den Streifenwagen flüchten. Auch ein weiterer Passant wurde in den Allerwertesten gebissen. Zu diesem Zeitpunkt entscheidet die Polizei vermutlich, die beiden Hunde zu erschießen.

Der Shitstorm beginnt
Aus einem Interview, das der „Onkel“ der Zeitschrift „Echo“ gibt, geht hervor, dass die Polizei nach diesen Biss­attacken das Tierheim abbestellt und ein weiteres Kommando angefordert haben soll, das die Hunde ­erschießen soll. Dieses kommt, erschießt die ­Hunde, und eine Minute ­Filmmaterial, das die Erschießung der Hunde zeigt, wird kurze Zeit später ins Netz gestellt. Als die Halter der Hunde den Schauplatz des Geschehens erreichen, ist schon alles vorbei. Ihre beiden ­Hunde sind tot.

Damit ist aber der „Fall Rüsselsheim“ noch nicht vorbei, im Gegenteil, jetzt beginnt er erst so richtig. Das Video im Netz zeigt seine Wirkung, die Polizei erlebt einen sogenannten Shitstorm, in dem sie nicht nur beschimpft wird, einige Internet-User wünschen den handelnden Polizisten den Tod und fordern Vergeltung. Es beginnt ganz harmlos. Bevor das Video sich im Netz verbreiten kann, zirkuliert eine Petition, die Aufklärung fordert. Diese wird von vielen geteilt und von vielen unterschrieben. An die 80.000 Unterschriften sollen es mittlerweile sein. Dann taucht das Video auf und damit beginnt der eigentliche Sturm im Netz. Zuerst sind die Menschen erschüttert, dann wütend und schließlich bildet sich ein virtueller Mob, der Shitstorm erreicht noch am selben Tag seinen ersten Höhepunkt und die ersten Zeitungen springen auf das Thema an.

Auch der Rechtsanwalt und Vorsitzender des Landestierschutzverbandes Hessen, Hans-Jürgen Kost-Stenger, wundert sich in einem Interview über die drastische Vorgehens­weise der Polizei: „Grundsätzlich gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Polizei muss so handeln, dass es dem Tier am wenigsten schadet. Aber das ist natürlich vom Einzelfall abhängig.“ Dass die Polizisten in einer Fußgänger­zone geschossen haben, sieht er kritisch. „Um von der Dienstwaffe Gebrauch machen zu dürfen, muss eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung nach dem Hessischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorliegen.“ Auch Rechtsanwältin Susan Beaucamp, die das im Netz zirkulierende Video juristisch beurteilt, sieht die Vorgehensweise der Polizei kritisch.

Die Demonstration
Im Netz plant man zu diesem Zeitpunkt bereits eine „Trauerkundgebung“, die dann am 28.9.2014 eher zu einer Demonstration wird. Jenny McDevin organisierte diese Versammlung mit Hilfe von Myriam ­Finger und Aileen Becker. Man ­meldet die Veranstaltung, die für 14:00 geplant ist, beim Ordnungsamt Rüsselsheim an. Sehr schnell hat die damit verbundene Facebook-Veranstaltung mehrere Tausend Zusagen. Die Medien springen nun auf den Zug auf, genauso, wie ein Lokalpolitiker, der sich vermutlich dadurch Popularität verspricht. Er gründet auf Facebook auch eine Solidaritätsseite für die Polizei von Rüsselsheim, die virtuell immer mehr unter Beschuss kommt.

Die Demonstration verläuft weitgehend friedlich. Tierfreunde aus ganz Deutschland und den angrenzenden Ländern hatten sich bei der Kundgebung am Sonntag angemeldet, die Veranstalter rechneten mit 4000 bis 5000 Teilnehmern. Gekommen sind etwa 400-500 Teilnehmer. Verschiedene Fernsehsender und­ ­Journalisten waren ebenfalls vor Ort. Jenny ­McDevin, die Organisatorin der Kundgebung, sagte, sie tue dies, weil sie die Tiere von klein auf gekannt habe und eine langjährige Freundin der Halter sei, die allerdings momentan nicht in der Lage seien, selbst irgendetwas in dieser Richtung zu tun. „Es geht uns einfach um Gerechtigkeit. Wir wollen mit der Demonstration e­rreichen, dass gegen den Polizeischützen ermittelt wird. Er soll angeklagt und verurteilt werden, wenn eine Fehlhandlung festgestellt wird“, sagt sie. Für die Veranstalter sei der friedliche Verlauf der Demonstration das wichtigste Anliegen. Deshalb habe man die Teilnehmer aufgefordert, ohne ihre Hunde zu kommen. Die Polizei ging ebenfalls von einem friedlichen Verlauf der Kundgebung aus. In den Medien wird man später davon widersprüchliche Berichte lesen.

Merchandising und Spenden
Mittlerweile gibt es eine Internetseite der Halter, die zu Spenden aufruft und T-Shirts verkauft, angeblich um die Unkosten der Halter zu decken, die bei ihrem „Kampf für Gerechtigkeit“ gegen die Polizei auf sie zukommen werden. Im Impressum der Webseite findet sich wieder der Name der ­Rüsselsheimerin Jenny McDevin, die auch die Trauerkundgebung organisiert hat. Ob Merchendising zu Gerechtigkeit führt, ist schwer zu sagen. Sicher, gute Anwälte kosten Geld und ein Prozess kann sich lange hinziehen. Aber es entsteht ein schaler Beigeschmack, man könnte unterstellen, dass da auf dem Rücken von zwei toten Hunden etwas ganz anderes ausgetragen wird.

Ging es gar nicht um die Hunde?
Osman und David und vermutlich auch die meisten ihrer Freunde gehören zu jenen Rüsselsheimern, die zu der Polizei ein eher gespanntes Verhältnis haben. Man könnte vermuten, dass sie nicht nur für ihre Hunde, sondern viel mehr gegen die Polizei kämpfen, die sie als ungerecht empfinden. Bei der Demonstration wurden einige Medienvertreter nicht nett behandelt, man warf ihnen vor, sie würden „sowieso nur Lügen“ schreiben. „Echo“ hat diesem Aspekt einen eigenen Artikel gewidmet. Es wirkt, als ob die Zweibeiner von Kimbo und Tays mit Polizei und Medien etwas auf Kriegsfuß ­stehen. Die Medien wiederum stehen auf Kriegsfuß mit der Berichterstattung zum Thema Hund und Rasseliste. Zu gerne verwenden sie zur Auflagensteigerung den Begriff „Kampfhund“, auch im Zusammenhang mit der Berichterstattung rund um den Fall in Rüsselsheim tauchte der „Kampfhund“ einige Male in verschiedensten ­Medien auf. Und es haben fast alle deutschen Blätter berichtet, sogar österreichische Zeitungen haben ­darüber geschrieben.

Das lässt vermuten, dass der Fall ­Rüsselsheim mehr ist als zwei tote Hunde. Vielleicht ist es einer jener Anlassfälle, der eine große ­Diskussion ins Rollen bringt. Die Rasselisten sind kontraproduktiv, die damit verbundene Diskriminierung hat es erst ermöglicht, dass Kimbo und Tays zu Märtyrern hochstilisiert werden und ihre Halter zu Helden.

Gäbe es keine Rasselisten, dann wären Kimbo und Tays vermutlich ganz einfach zwei Hunde, die aufgrund eines Fehlers ihrer Halter, in Kombination mit einem missglückten Polizeieinsatz, ihr Leben lassen mussten. Denn Hand aufs Herz, wer lässt seine Hunde über Nacht in einem schlecht gesicherten, leeren Lokal zurück? Wer missachtet konsequent die in einer Fußgängerzone geltende Leinenpflicht? Das tun eigentlich nur eher verantwortungslose Hundehalter, denn die verantwortungsvollen unter uns halten sich (meistens) an die geltenden Gesetze, zum Schutz der Hunde.

In Rüsselsheim dürften zwei ­Formen der Diskriminierung zusammen kommen, einerseits jene gegenüber Hunden aufgrund von Rasselisten, anderseits aber auch jene gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund, wie Osman und David. Das mag er­klären, warum Rüsselsheim in zwei Lager gespalten ist. Warum dieser Fall in dieser Stadt so sehr polarisiert.

Fazit
Aufgrund der vorliegenden ­Fakten lässt sich nicht beurteilen, wer „schuld“ ist. Nur, dass die ­Hunde „unschuldig“ sind, denn sie sind letztlich Tiere, die nicht, so wie der Mensch, zwischen Gut und Böse unterscheiden können. Sie reagieren und agieren entsprechend der ­Situation, in der sie sich befinden. Hätten ihre Zweibeiner sie so beaufsichtigt, wie es das Gesetz vorschreibt und der verantwortungsvolle Hunde­halter dies auch macht, hätte es den Fall so nicht gegeben. Hätten die Polizisten etwas mehr Geschick beim Einfangen der Hunde bewiesen und hätte der „Onkel“ durch eine falsche Handlung, das Hochheben des einen Hundes, die Situation nicht ­eskalieren lassen, ­würden beide vermutlich noch leben. Es waren menschliche Fehler, die Kimbo und Tays das Leben ge­kostet haben.

HINTERGRUND

Offizielle Pressemeldung der ­Polizei Rüsselsheim

Polizei erlegt Tiere

Rüsselsheim – Zwei freilaufende Hunde mussten am frühen Dienstagmorgen (23.09.) von Beamten der Polizeistation Rüsselsheim getötet werden. Zeugen alarmierten gegen 07.40 Uhr über Notruf die Polizei, nachdem sie die beiden herrenlosen American Staffordshire Terrier am Friedensplatz ausgemacht hatten. Der Verantwortliche war nicht vor Ort, eine Hinzuziehung des Tierheims war ebenfalls nicht möglich. Ein 41 Jahre alter Verwandter des Hundehalters versuchte daraufhin gemeinsam mit den alarmierten Beamten die beiden Tiere zu beruhigen und einzufangen. Das Einfangen schlug jedoch fehl, der Rüsselsheimer wurde bei dem Versuch gebissen und leicht verletzt. Auch einen zweiten Passanten griffen die Terrier an und verletzten ihn. Beide Männer mussten unter anderem durch alarmierte Rettungswagen ärztlich behandelt werden. Um eine weitere Gefährdung für Unbeteiligte zu ver­hindern, wurden beide Hunde anschließend durch die Polizisten erlegt.