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Eine zweite Chance für Chichina

Resozialisierung und Rudel-Integration

Chichina ist eine Cão Fila de São Miguel-Hündin und stammt aus dem Tierschutz. Sie sollte in eine Familie mit mehreren Hunden und Kleintieren adoptiert werden. Das Problem war nur, dass sie mit Hunden eher unverträglich war und gegenüber Kleintieren Jagdverhalten zeigte. Der folgende Artikel beschreibt, wie Chichina erfolgreich re­sozialisiert und in das neue Rudel integriert werden konnte.

Normalerweise halte ich als Hundetrainerin nicht viel von „Fremdausbildung“ und bin auch gegenüber dem Import von Tierschutzhunden aus dem weit entfernten Ausland skeptisch. Nicht, weil ich kein Herz habe, sondern weil ich mir oft überlege, wie vielen Tieren mit den­selben Ressourcen geholfen werden könnte, wenn die Reisekosten ander­weitig für die Tiere genutzt werden können, die sich nicht so weit weg aber trotzdem auch in Not befinden.

So ging ich erst einmal skeptisch in den ersten Kontakt mit einer Anruferin, die mich gerade beim Gassiservice erwischt hatte und auf die ich zwei Stunden später zurückkam. Bis jetzt wusste ich, dass bereits acht Tierschutzhündinnen und ein Rüde bei ihr lebten, dass sie gute vier Stunden entfernt wohnte und dass es Probleme mit der neuen Hündin Chichina gab. Sie ließ sich nicht in die Gruppe integrieren, war ein Cão Fila de São Miguel, hatte sich schon durch den Zaun auf den Nachbarshund gestürzt und liebäugelte mit den Kaninchen und Katzen. Es war bereits ein Trainer vor Ort gewesen, der nicht helfen konnte. Auf mich war sie über das Internet gekommen, da ich zum Thema innerart­liche Aggression promoviere und mich in meiner Hundeschule schwerpunkt­mäßig mit Sozialisierung und Resozialisierung auseinandersetze.

Zuhause angekommen machte ich mich erst einmal über die Rasse schlau. 60 cm Stockmaß, 35 kg Muskeln, gestromtes Fell, das Aussehen einer Hyäne – der Cão Fila de São Miguel ist ein beeindruckender Hund. Man schreibt ihm ein ähnliches Wesen wie dem Pitbull zu, hieß es zu Beginn in einer Reportage. Weiterhin erfahre ich, dass die Filas auf den Azoren normalerweise als Schutzhunde von Vieh und Maschinen gehalten werden und die Menschen ihre Filas lieben, obwohl sie als gefährlich gelten. Die Menschen halten die Hunde in der Jugend von fremden Menschen fern, damit sie Haus und Hof gegen Fremde verteidigen. Oft führen sie ein sehr ­einfaches Leben als Kettenhunde.

Auch wenn mich die Reportage beeindruckte, wurde ich immer skeptischer, ob ich den neuen Haltern helfen könnte. Nach einer Tasse Kaffee rief ich in Ruhe zurück und ging davon aus, dass es in erster Linie ein Beratungsgespräch werden würde. Zunächst einmal ging es um Chichinas ganz eigene Geschichte. Sie kam direkt von den Azoren, war noch nicht einmal ein Jahr alt, hatte wohl vorher ein Zuhause, zumindest wurde ein Impfpass mitgeliefert. Versuche, die vorigen Halter zu erreichen, waren erfolglos. Sie hatte vermutlich bei der ersten Läufigkeit bereits einmal Welpen, saß in der Tötungsstation und sollte euthanasiert werden, sobald ihre Welpen vermittelt waren. Ob sie wegen der Welpen abgegeben worden war oder die Welpen erst dort bekommen hatte, ließ sich leider nicht nachvollziehen. Zumindest ließen diese Fakten schon einmal die Schlussfolgerung zu, dass Chichina extremen Stress in der Tötungsstation gehabt haben muss, was ihr Verhalten gegenüber anderen Hündinnen möglicherweise erklären könnte. Andererseits könnte ihre Aggression gegenüber anderen Hunden, ihr großes Interesse an Kaninchen und Katzen gerade der Auslöser gewesen sein, dass sie nicht mehr gewollt war.

Im Gegensatz zu der Reportage sagte mir die neue Halterin, dass sie sehr freundlich mit Menschen sei. Nicht nur mit ihr bekannten, sondern auch mit fremden Menschen. Auch das könnte ein Abgabegrund gewesen sein, wenn sie als Wachhund gedacht war. Die Umstände, dass Chichina noch so jung war und keine Aggression gegenüber Menschen zeigte, weckten Hoffnung. Ich beschloss, zunächst mein Netzwerk zu aktivieren, um einen Kollegen in der Nähe zu finden, der Chichina helfen könnte. Bald stellte sich heraus, dass auch die mir bekannten Hundetrainer im Süden alle zu weit weg waren, um sie ins Einzeltraining aufzunehmen. Chichinas neuer Familie ging es vor ­allem darum, ob Chichina überhaupt mit anderen Hunden kommunizieren konnte. Ansonsten würde sie einen Einzelplatz für sie suchen, wollte aber nichts unversucht lassen. Ich betonte, dass ich nicht versprechen könne, dass sich in ihrem Verhalten grundlegend ­etwas ändern würde, selbst wenn ich sie in mein Gassirudel und beim ­Training integrieren könnte. Und so wurden wir uns einig, dass Chichina zwei Tage ­später zu meinem Hundeplatz zur ersten Verhaltensanalyse angereist kam.

Die Verhaltensanalyse
Die Freundlichkeit der Hündin gegenüber Menschen bestätigte sich unmittelbar und sorgte für erste Erleichterung. Wir ließen sie kurz ankommen und füllten in der Zeit einen Anamnesebogen aus. Die Hündin fühlte sich sichtlich wohl und zeigte nach der Autofahrt keine Anzeichen von Stress oder Unbehagen. Der Natur der Sache geschuldet, dass Chichina erst zwei Wochen im neuen Zuhause war, fielen Beziehungs- und Bindungstests eher mäßig aus. Die Analyse mit dem Stoffhund gab jedoch ziemlich schnell Aufschluss, dass sie definitiv ein Problem mit Hunden hatte. Dabei konnten ihre Probleme auf den ersten Blick grundlegend einer Aggression und keinem Beutefangverhalten zugeordnet werden. Allgemein gibt es zwischen Aggression und Beutefangverhalten zwei große Unterschiede. Bei Aggression wird das Gegenüber in der Regel gewarnt, und die Absicht des Angreifers ist ein Vertreiben oder zumindest eine Abstandsvergrößerung. Ein beutemotivierter Angriff erfolgt möglichst überraschend. Verletzungen oder gar Tötungen liegt wesentlich häufiger Beutemotivation zugrunde als Aggression.

Ich konnte also noch einmal aufatmen. Nicht nur, dass Chichina durch deutliche Gesten zeigte, dass sie den Stoffhund nicht leiden konnte, auch stellte sie ihr aggressives Verhalten ganz schnell wieder ab, als sich der Stoffhund „umdrehte“ und sie an seinem Hinterteil schnuppern konnte. Das Analyse- Ergebnis stimmte mich zuversichtlich: Chichina war tatsächlich freundlich mit Menschen und ihr Problem mit anderen Hunden war nicht beutemotiviert. Als große Fragezeichen hielten wir die ­eventuelle Gefährdung der im selben Haushalt lebenden Katzen und Kaninchen fest, ihre Leinenaggression und eine eventuell starke Territorialität, da sie durch den Zaun auf den Nachbarshund losgegangen war, glücklicherweise ohne diesen zu verletzen.

Integration mit „echten Hunden“
Da Chichina bereits den Maulkorb kannte, durfte sie als ersten „echten Hund“ meinen unkastrierten Jungspund Bruno hinter dem Zaun kennenlernen. Die ­beiden waren sich über ihre gegen­­sei­tige Sympathie unmittelbar einig, sodass ich Bruno mit auf den Platz holen konnte. Wie schön, dass Chichina also auch Hunde mögen konnte! Zwischen Bruno und Chichina entwickelte sich über die gute Woche eine sehr innige Hunde- Freundschaft.

Anders sah es dagegen zwischen Chichina und meiner Althündin Kessie aus. Die beiden hatten zunächst ihre Schwierigkeiten, wobei meine alte ­Hündin sich gut zu verteidigen weiß und über wesentlich mehr Erfahrungen in Hundebegegnungen verfügt. ­Chichina kannte bislang offensichtlich nur Angriff oder Flucht, denn nach einem gescheiterten Angriff schlug ihr Verhalten erst einmal ins Gegenteil um und sie versuchte, Kessie komplett zu meiden. Ihr Überreagieren bestätigte meine bisherigen Studienergebnisse sehr gut. Die meisten Raufer haben nicht gelernt, Konflikte angemessen zu lösen, sondern leiden unter Kontroll­verlusten (siehe Artikel in WUFF 7/2017).

Zwei Tage und einige Leinenspaziergänge später wendete sich das Blatt und Chichina hatte gelernt, sich Kessie gegenüber neutral zu verhalten. Sie verstand, dass sie sich auf menschlichen Schutz verlassen könnte, wenn sie Streit aus dem Weg ging. Die nächsten Tage durfte sie mich beim Gassiservice begleiten. Zunächst orientierte sie sich stark an den unkastrierten Rüden, während sie Hündinnen und Kastraten eher mied. Zwei sehr nette Hündinnen und ein zurückhaltender Kastrat in meiner Gruppe konnten sie jedoch weiter überzeugen, dass man mit anderen Hunden Spaß haben kann.

Zusätzliches Training
Nachmittags hatten wir uns kleine Trainingseinheiten vorgenommen. Da ein unkontrollierbares Jagdverhalten im neuen Zuhause Ausschlusskriterium gewesen wäre, führte uns unser erster Ausflug in den Tierpark. Das Stop-­Signal hatte sie bereits kennengelernt und nun galt es zu überprüfen, ob sie es auch beim Anblick von anderen Tieren wahrnehmen könnte. Zugleich sind im Tierpark auch immer andere angeleinte Hunde unterwegs, mit denen wir an ihrer Leinenaggression arbeiten konnten. Wir gingen zu den ­Kleintieren, da sie diese auch in ihrem neuen Zuhause um sich haben würde. Die wilden Meerschweinchen waren begeistert von Chichina und man konnte sich kurz fragen, wer hier eigentlich das Zootier ist. Auf das Abbruchsignal reagierte sie so super, dass ich sogar ein Video anfertigen konnte, um es an ihr neues Zuhause zu schicken. Fazit: Jagdtrieb vorhanden, aber sehr gut kontrollierbar. Damit hatte Chichina eine weitere Hürde erfolgreich gemeistert.

Leinenaggression
Auf dem Hundeplatz einer Kollegin konnte Chichina ein bisschen Agility kennenlernen und hatte zudem fremde Hunde zur Ablenkung. Beides hat sie so toll gemacht, dass sie am Ende des Trainings noch die angehenden Blindenführhunde der Kollegin der GG-Hundeschule kennenlernen durfte. Hier zeigte sie sich durch die eher distanzlosen Labradore zunächst ein wenig irritiert, blieb aber friedlich und ließ sich zu guter Letzt auch auf ein Spiel ein. Die anderen Hunde hinter dem Zaun schaffte sie zu ignorieren.

Chichina geht nach Hause
Ich hätte nicht damit gerechnet, dass Chichina sich in den wenigen Tagen so rasant entwickelt. So war es schon an der Zeit, sich Gedanken über die bevorstehende Rudelintegration zu machen. Sie musste die anderen Hunde kennenlernen, und die Menschen, die mit Chichina zu tun haben würden, mussten in die neu erlernten Signale eingeführt werden. Wegen der noch offenen Frage nach Territorialität entschieden wir, dass ich Chichina in ihr neues Zuhause bringen und mir die Integration vor Ort angucken würde. Ich sammelte Informationen über die Charaktere der bevorstehenden „Rudelmitglieder“ und wir legten gemeinsam eine Reihenfolge fest, in der Chichina die anderen zunächst einzeln kennenlernen würde.

Um eine positive Grundstimmung aufrecht zu erhalten, wählten wir die Reihenfolge so, dass wir mit dem Hund anfingen, bei dem wir das geringste ­Eskalationsrisiko erwarteten, und tasteten uns langsam zu den drei Hündinnen vor, denen die Familie Chichina bereits erfolglos vorgestellt hatte. Da Chichina sich im Gassiservice und beim Hundetraining am besten mit unkastrierten Rüden verstanden hatte, durfte sie zunächst den einzigen Rüden kennenlernen. Ich hielt Chichinas Schleppleine und der kleine Papillon-Mix kam mit sichtlich geschwollener Brust auf Chichina zumarschiert. Ohne zu zögern griff er Chichina an, die sein ­Verhalten erwidern wollte. Schnell tauschte ich die Schleppleinen, sodass ich erst einmal den größenwahnsinnigen Rüden wieder unter Kontrolle bringen konnte. Dann konnte ich auch Chichinas Leine nehmen, ging ein Stück mit ihnen gemeinsam und es folgte ein zweites, friedliches Kennenlernen. Glück gehabt, die Nächste bitte!

Wir konnten ihr alle Hündinnen kurz einzeln vorstellen, auch eine der Katzen schaute mal vorbei. Es blieb alles friedlich, wenn auch teilweise angespannt. Uns war bewusst, dass wir noch nicht „über den Berg“ waren. Chichina musste auch mit Rudeldynamiken zurechtkommen. Aber für heute durfte Chichina in den wohlverdienten Feierabend. Und das Beste an diesem Feierabend: Chichina musste nicht mehr in ein separates Zimmer, sondern durfte dank Boxengewöhnung mit in Frauchens Zimmer schlafen.

Rudelspaziergang und das andere Ende der Leine
Am nächsten Morgen machten wir mit allen 10 Hunden, der Halterin und allen weiteren angehenden Bezugspersonen einen Rudelspaziergang. Wie ­befürchtet, ließ sich Chichina von anderen Personen zunächst nicht gut führen, sondern zog sehr an der Leine. Es gibt viele ­Hunde, die an der Leine zerren. Wenn die Besitzer damit leben können, finde ich es auch nicht in jedem Fall ­tragisch. ­Allerdings hatte ich im Fall von ­Chichina Bedenken, dass die Spannung auf der Leine sie wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen lassen würde. Ich gab einen Crash-Kurs in Körpersprache und riet dazu, auch dem Rest des Rudels vorübergehend mehr Regeln zu geben, um die ­Kommunikation mit der Gruppe zu üben.

Wieder im neuen Zuhause angekommen, übten wir das strukturierte „Durch-die-Tür-Gehen“ und besprachen, wie zu wildes Spiel erkannt und unterbrochen werden kann und wie die Hunde ruhig wieder frei gegeben werden konnten. Nach und nach ließen wir die gesamte Gruppe zusammen laufen. Dank Videotechnik konnten wir im Nachhinein ein paar Mobbing­situationen analysieren und auch Ver­ursacherinnen entlarven, die uns mit dem bloßen Auge nicht ­aufgefallen wären. Nachdem wir nun weiteres Vorgehen besprochen und alle ­offenen Fragen geklärt hatten, wurde es für Bruno und mich Zeit, den Heimweg ­anzutreten. Chichina war bereits wieder in ihrer Box, hörte aber meine Stimme vor der Tür und jaulte. Oh je, dachte ich kurz. Es war doch eine recht intensive ­Woche, sie war eine wirklich sympathische Hündin und Bruno würde sie ­sicher vermissen. Trotzdem war ich froh, dass ich mich auf das Training und auf die Zeit mit Chichina eingelassen hatte, auch wenn das eigentlich nicht meine Art ist, mit Hunden zu ­trainieren. Bei ihr hatte es einfach gepasst und die Situation hatte keine andere Möglichkeit hergegeben. Die Alternative wäre gewesen, ein neues Zuhause für einen „unverträglichen“, gestromten, kurzhaarigen, kräftigen Hund aus dem Tierschutz zu suchen, der nicht gerade die besten Vermittlungschancen hatte. Es war knapp, aber ich bin froh, dass wir es bis hierher geschafft haben. Es fiel mir nicht leicht, den richtigen Zeitpunkt zu finden, ein Resüme zu ziehen und die Geschichte als Erfolgsgeschichte zu ­bezeichnen. Alte Verhaltensmuster ­waren angelegt und es war möglich, dass Chichina vor allem bei Begegnungen mit fremden Hunden in diese zurückfällt. Ein erfolgreicher Ausgang lag daher nicht nur an Chichina, sondern auch daran, wie verantwortungsvoll die Halter mit dem Gefahrenpotenzial umgehen würden.

Zum Glück war Chichina nicht in leichtsinnigen Händen gelandet. Sie durfte bei den anderen Hunden schlafen und mit ihnen Kontakt haben, blieb aber rückblickend nun 8 Wochen vorerst durch einen gut sitzenden Maulkorb gesichert oder räumlich durch eine Box getrennt. Der Rest der Meute, aber auch Kaninchen und Katzen blieben geschützt und Chichina hatte ausreichend Zeit, sich in ihr neues Leben zu integrieren. Erst als sich ihre neue Familie sicher war, dass auch für die anderen Tiere im Haushalt keine Gefahr mehr im Verzug war, durfte sie langsam auch ohne Maulkorb mit den anderen inter­agieren. Chichina hatte so ausreichend Zeit, sich an die anderen zu gewöhnen, und genügend Zeit, ihre zweite Chance auf ein neues Zuhause zu nutzen.

Pdf zu diesem Artikel: chichina_zweite_chance