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Im Brennpunkt – Ethik und Ethologie in der Hundeausbildung

Ethologische Grundlagen zur Hundeerziehung und Hundeausbildung
Der Unterschied zwischen Hundeerziehung und Hundeausbildung ist kein qualitativer, wie es immer postuliert wird, sondern ein rein quantitativer. Denn die Koordinaten für diese Mensch-Tier-Interaktion sind dieselben. Auf der einen Seite ist der Hund mit seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten, auf der anderen Seite ist der Mensch, der den Hund nach seinen Interessen formen will. Der Prozess ist über zehntausend Jahre alt und bedarf keiner Rechtfertigung.
Durch gezielte Selektionsprozesse steht uns heute eine große Zahl von Hunderassen mit erstaunlich vielen Varianten im Verhalten und Aussehen zur Verfügung. Gebrauchshunde nehmen eine Sonderstellung ein, weil sie besondere Leistungsfähigkeiten haben und wichtige Aufgaben im Dienste der Allgemeinheit erfüllen können.
Hundeausbildung ist insofern umfassender, als sie Erziehung voraussetzt und somit nicht nur die Integration des Hundes in seine Umwelt sicherstellen soll, sondern weitere Fähigkeiten des Hundes nutzbar macht.
In der weiteren Betrachtung soll deshalb die Gebrauchshundeausbildung stehen, da empirisches Wissen in diesem Bereich vorliegt.

Was sind Triebqualitäten?
Triebqualitäten beschreiben die psychischen Komponenten der Konstitution. Sie bestimmen Art und Ablauf der Funktionen und Reaktionen. Die trieblichen Verhaltensdeterminanten ergeben sich aus den Grundlagen der Arterhaltung: Hunger, Sexualität, Flucht, Aggression.
Die angewandte Kynologie hat zur besseren Verständigung in Ausbildungsprozessen ihre spezielle Terminologie entwickelt:

Triebkanalisierung durch Ausbildung
Ausbildung kanalisiert die natürlichen Triebmäßigkeiten des Hundes in gewünschte Verhaltensweisen. Dies geschieht durch Anwendung der Lernprinzipien. Das behavioristische Lernmodell basiert auf der Erkenntnis, dass sowohl Kleinkinder wie höhere Säugetiere auf dem Prinzip der Belohnung und Bestrafung im Sinne von Lust/Glücksgefühl und Schmerz reagieren. Neben dem Streben nach Lust (Triebziel erreichen) bildet der Schmerz (Zwang) das zweite wichtige Regulativ in einem Lern- oder Adaptationsprozess. Beide erfüllen eine „Leitplankenfunktion“ im Lernprozess und im Erhaltungsprozess des Erlernten. Das bedeutet, dass wir unserem Sozialkumpan „Hund“ nicht nur ein angenehmes Leben ohne Sorge um Nahrung und Unterkunft, sondern darüber hinaus auch eine Erziehung und Ausbildung angedeihen lassen können und müssen, die notwendigerweise nicht frei sein kann von Schmerz und Zwängen (Hinweis auf Analogie zu menschlichen Kooperationsprozessen: Schule, Ausbildung, Tätigkeit). Im höheren Sinne ist all dies als Prozess einer Persönlichkeitsbildung bzw. „kulturellen“ Evolution des auszubildenden Tieres zu interpretieren. Da ein Hund zu keiner verbalen Kommunikation und der darüber vermittelten Einsicht in Notwendigkeiten befähigt ist, erscheint auch die Anwendung von Zwängen einschließlich aller in der Praxis bewährten Hilfsmittel aus humaner Sicht gerechtfertigt.

Schmerz löst Meideverhalten aus
Obwohl Schmerz ein unangenehmes Empfinden und damit Meideverhalten auslöst, erfüllt er nicht nur im Lern- und Adaptationsprozess, sondern auch bezüglich unserer Gesundheit seine wichtige „Leitplankenfunktion“. Was wäre, wenn wir erst durch den Geruch bemerken würden, dass wir auf einer heißen Kochplatte sitzen? In meiner eigenen täglichen Praxis wird mir auch immer wieder gegenwärtig, dass mitunter trotz Vorhandensein hoher Intelligenz erst der Schmerz den Einsatz der Vernunft sicherstellt: Erst Zahnschmerzen bewegen viele Patienten dazu, ihrer Zahngesundheit gegenüber nicht gleichgültig zu sein. Speziell Termine für Weisheitszahnentfernungen werden ungern eingegangen, dafür um so lieber nicht eingehalten; wenn dann die zwangsläufigen Abszesse Schmerzen bereiten, kehrt bei allen Patienten Vernunft zurück.

Es geht um’s Wie!
Somit stellt sich nicht die Frage nach Legitimation einer Schmerzzufügung im Kooperationsverhältnis Mensch-Hund, sondern Qualität und Quantität sind unter Berücksichtigung der menschlichen Motive relevant. Die klassische Konditionierung beschreibt ein Lernen von Gefühlen und Triebstimmungen auf bestimmte Reize. Lust wird im Beute-, Fortpflanzungs- und Aggressionsverhalten empfunden. Schmerz/Unlust ist dem Meideverhalten zuzuordnen. Die instrumentelle (operante) Konditionierung beschreibt ein Lernen von motorischen Fertigkeiten.

Lernmodell
Das abgebildete Lernmodell veranschaulicht, dass gewünschtes Verhalten gelernt wird, wenn
1. triebliche Voraussetzungen vorhanden sind,
2. der entsprechende Reiz vorhanden ist, und
3. das Verhalten zur Triebbefriedigung führt.
Wenn Fertigkeiten und Verhalten gelernt werden (instrumentelle Konditionierung), wird gleichzeitig auch im Bereich der Emotionalität (klassische Konditionierung) gelernt. Passion, Trieb und Arbeitsfreude haben in der Hundeausbildung hohen Stellenwert, deshalb wird in der Ausbildung zweckmäßigerweise maximal mit positiver Verstärkung (Triebziel erreichen) im lustbetonten Bereich gearbeitet.

Der Prozess des Lernens durchläuft mehrere Stufen:

Die Absicherung
Auf unterer Ebene erreicht der Hund bei gewünschtem Verhalten sofort sein Triebziel, mit zunehmendem Lernniveau wird die Bestätigung unregelmäßig, bis auf höchstem Lernniveau Konflikte geschaffen werden (Belastung), wenn von gewünschtem Verhalten abgewichen oder gewünschtes Verhalten verweigert wird. Damit stellt sich dann das gewünschte Verhalten als Weg des geringsten Widerstands dar und wird sodann bevorzugt. Während auf der unteren Ebene das Erlernen des Bewegungsablaufs und die Kopplung an das Hör- oder Sichtzeichen zentrale Lerneinheit ist, steht im mittleren Lernabschnitt die Triebbeständigkeit im Vordergrund. Bei der Lernfixierung wird eine Sensibilisierung des Hundes in Bezug auf das Hör- und Sichtzeichen und damit die Zuverlässigkeit der Ausführung erreicht.

Im nächsten WUFF (Ausgabe 11/00 ab 27. Oktober) der zweite und letzte Teil dieses Artikels von Dr. Raiser und der Auftakt zur WUFF-Leser-Diskussion.

>>> WUFF – INFORMATION

Tele-Impulsgeräte in der Hundeausbildung:
Ein Gutachten von Dr. Helmut Raiser

Teil 1 (in diesem Heft): Philosophische Grundfragen sowie ethische und ethologische Grundlagen der Hundeausbildung
Teil 2 (in WUFF 11/00): Fragen der Anwendung von Tele-Impulsgeräten

>>> WUFF – INFORMATION

Philosophische Grundfragen und ethische Grundlagen

Unsere Kultur schreibt Tieren einen moralischen Status zu, Voraussetzung dafür ist Empfindungsfähigkeit (Sentientismus). Damit wird die Bestimmung der Formen und des Inhalts tierlicher Empfindungsfähigkeit Teil der Problemlage. Fragen nach Ausmaß der Empfindungen, Schmerz oder Trauer, Lust und Leid, mentalen Vorgängen, Absichten, Zeitbewusstsein, Angst vor dem Tod sind zunächst empirischer Natur und somit von subjektivem Erkenntnisgrad, also primär nicht philosophisch.
Meine moralische Überzeugung begründet sich in 35-jähriger Empirie im häuslichen und sportlichen Umgang mit Hunden und die zentralen normativen Prädikate wie gut, richtig, gerecht etc. entstammen einer gut bürgerlichen Erziehung, einer mathematisch-naturwissenschaftlichen und medizinischen Ausbildung und meiner ärztlichen Ethik.

Interpretation hundlichen Verhaltens
Es kann angenommen werden, dass sowohl der Hund wie der Mensch Fremdpsychisches wahrnehmen und Verhalten insofern über Speziesgrenzen hinweg richtig interpretieren kann. Somit kann er auch bestimmte Verhaltensymptome als Ausdruck von Freude und Lust/Glück oder Schmerz und Leid, Müdigkeit, Aufgeregtheit, Verwirrung, Angst, Aggressionen etc. zuordnen. Selbstverständlich muss beachtet werden, dass hier systematische Verzerrungen vorkommen, die aufgrund der Vertrautheit mit menschlichem Verhalten tierisches Verhalten in Analogie und damit gelegentlich falsch interpretieren (vgl. Lorenz).
Unsere Wahrnehmung der Hundepsyche konstituiert die Annahme, dass beim Hund Interessen vorliegen und in Analogie zur menschlichen Kooperation begründen wir individuelle Rechte der Tiere.

Antropomorphismus
Das Kooperationsverhältnis mit Tieren ist in hohem Maße asymmetrisch und bildet nicht das Fundament unseres Umgangs mit Tieren. Das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren ist von Einseitigkeit bestimmt, die eine schlichte Übertragung von Kooperationsnormen in die Tierethik ausschließt. Dort, wo Kooperationsnormen auf Tierethik übertragen werden, findet charakteristischerweise eine irrationale Vermenschlichung von Tieren statt (Julian Nida-Rümelin).
Unsere moralischen Urteile müssen sich in Form bestimmter Prinzipien und Einstellungen zusammenfassen lassen und sich in konkretem Handeln und in Tugenden äußern, dann sind sie kohärent. Im Falle der Tierethik fällt selbst dem oberflächlichen Betrachter sofort auf, dass unser faktischer Umgang mit Tieren diesem Postulat der Kohärenz in keiner Weise entspricht.

Ungleiche Gewichtung
Da sind Missverhältnisse in der öffentlichen Debatte bei der Fokussierung auf Probleme der Tierethik entstanden, die wegen ihrer Inkohärenz zugleich Ausdruck von Irrationalität sind. Ca. 2 Millionen Tierversuche im Jahr 1994, an deren Zulässigkeit strenge Vorschriften gestellt werden, erregen Aufsehen, während Schädlingsbekämpfungsmittel keiner Genehmigungs- oder Meldepflicht unterliegen, damit aber schätzungsweise 150 Millionen von gleichen Tieren wie in Tierversuchen jährlich (meist aber auf qualvolle Weise) getötet werden. Auch 330 Millionen geschlachtete Nutztiere und 4,6 Millionen erjagte Wildtiere (vgl. Tierschutzbericht 1995) machen vergleichsweise wenig öffentliches Interesse.

Inkohärenz normativer Regelungen
Diese Inkohärenz schlägt sich auch in den gesetzlichen Bestimmungen, die für unseren Umgang mit Tieren relevant sind, nieder. Der postulierte ethische Tierschutz ist im Gesetz nicht kohärent umgesetzt. Eine einheitliche rechtfertigende rechtsethische Theorie ist nicht zu erkennen (vgl. Nida-Rümelin 1996). Menschliche Interessen ökonomischer, wissenschaftlicher und hedonistischer Art werden im Tierschutzgesetz zu einem gewissen Grade begrenzt.
Somit sind die normativen Regelungen des Tierschutzgesetzes eine Überschneidung von anthropozentrischem und ethischem Tierschutzgedanken (vgl. Lorz, Nida-Rümelin).
Die starke Dominanz des Ziels der Schmerzvermeidung gegenüber der Verhinderung von Schädigung und Tötung im Tierschutzgesetz steht der Bewertung, die bei Menschen getroffen wird, diametral entgegen, insofern scheint es um die Kohärenz der juridischen Regelungen unseres Umgangs mit Tieren schlecht bestellt zu sein.

Rechtliche Regelungen wenig rational
Gaumenfreuden und die damit verbundenen Nutztierhaltungsvereinfachung und Verbilligung der Fleischproduktionen scheinen hoch angesetzte Werte zu sein, dafür darf kastriert und getötet werden, während bei Tierversuchen besondere ethische Abwägung verlangt wird. Die Inkohärenz der normativen Regelungen des Tierschutzgesetzes betreffen den Kynologen in besonderem Maße, weil gerade im Bereich der juridischen Regelungen zur Erziehung und Ausbildung (von Hunden) ein wenig rationaler Dezisionismus (Mangel an ethischer und rechtlicher Begründung infolge Inkohärenz) Verwirrung schafft.