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Michi, der hundliche „Kaspar Hauser“

Kaspar Hauser-Symptomatik, die auf die isolierte Zwingerhaltung in der Hundehalle in Hamburg-Harburg zurückzuführen ist, und Zeichen sozialer Deprivation“. Das steht im Wesenstest des jungen Pitbullmischlings Michi, den er am 25. 6. 2001 absolvierte. Wie ist es dazu gekommen, dass aus einem jungen lebenslustigen und neugierigen Hund ein völlig verängstigtes Tier wurde? Ein hundliches Pendant zum bekannten Kaspar Hauser, der von der Umwelt völlig isoliert aufwuchs und daher nicht fähig war, mit ihr normal Kontakt aufzunehmen (s. Kasten unten).

Als Fundtier abgegeben

Am 13.11.2000 wurde ein ca. 6 Monate alter schwarzer Rüde mit weißen Abzeichen, vermutlich ein Pitbullmischling, als Fundtier im Hamburger Tierschutzverein (HTV) abgegeben. Der junge Hund verhielt sich bei der Eingangsuntersuchung freundlich, unbefangen, verspielt und verträglich mit Mensch und Hund. 10 Tage später wurde er in die Hamburger Hundehalle überstellt, wo die Stadt Hunde dieses Typs „verwahrte“, weil für sie keine Haltungsgenehmigung mehr erteilt wurde (siehe frühere Berichte in WUFF). Nach 7 Monaten Aufenthalt in der im Volksmund „Hunde-KZ“ genannten Halle bot sich bei der Vorführung zum Wesenstest am 25. 6. 2001 den Mitarbeitern des HTV ein erschreckendes Bild. Aus dem lebenslustigen jungen Vierbeiner war ein ängstlicher und scheuer Hund geworden.

Michi im Wesenstest

Im Wesenstest fiel die auffallend große Ängstlichkeit von Michi auf. Das Fazit des Testes: „Michi wies im Test deutliche Zeichen sozialer Deprivation auf. … Alle Reize der belebten und unbelebten Umwelt ängstigten ihn stark. Die beschriebene Kaspar Hauser-Symptomatik kann wohl auf die isolierte Zwingerhaltung in Harburg zurückgeführt werden.“ (Wesenstest siehe Kasten unten). Meike Hees, die Gutachterin für den nach Feddersen-Petersen durchgeführten Wesenstest, schloss ihre Ausführungen aber auch mit einer weiteren Empfehlung, die Anlass gab zur Hoffnung: „Michi benötigt dringend intensive soziale Kontakte, sowie eine gezielte Habituation an Umweltreize“.

Heute geht´s ihm gut

Heute sieht die Welt für Michi schöner aus: Er lebt glücklich bei Jeanette Gatz-Dietzschold in Bad Oldesloe nördlich von Hamburg, zusammen mit Josy, einer Staffhündin und dem 12-j. Rauhaardackel Moritz. Jeanette hatte sich für Michi interessiert, als sie mit dem bei ihr ansässigen Tierheim, das im Februar Hunde aus Hamburg holte, mitgefahren und dort dem völlig verstörten und verängstigten Hund begegnet war. Die Tierpflegerin meinte, dass der Rüde aufgrund seines Kaspar Hauser-Syndroms wohl nie einen Platz finden würde, und auch das Tierheim wollte Michi nicht nehmen. So bot Jeanette an, Michi bei sich als Pflegehund aufzunehmen und sich um die weitere Vermittlung zu kümmern.

Die Tierpflegerin warnte davor, dass Michi extrem scheu sei, da er keinerlei Erfahrungen mit der normalen Umwelt gehabt habe. Er würde in Freiheit vielleicht sogar „zusammenbrechen“. Jeanettes erster Eindruck von Michi bei der Abholung in Hamburg: „Ja, er war sehr ängstlich, aber trotzdem liebenswürdig zu Menschen und Tieren“. Und so machte sich Jeanette mit Michi auf den Weg zurück nach Hause, das nun auch für ihn ein vorläufiges neues Zuhause werden sollte. Dort wurde er sofort von

Jeanettes Hündin Josy heftig begrüßt. Und dann konnte sich Michi vermutlich das erste Mal seit langem austoben. Ein ausgiebiger Dauerlauf im Garten, Josy hinterher. Michi schien die wiedererlangte Freiheit und auch die Spielkameradin zu genießen.

Mittlerweile ist Michi durch Jeanettes Engagement ein fröhlicher Hund geworden. Jeanette zu WUFF: „Er spielt leidenschaftlich gerne, ist sehr agil, lernt schnell, habe mit ihm gerade eine Hundeschule besucht (Einzelstunden), sehr anhänglich, sogar katzenverträglich, sehr schön, eigentlich ein Traumhund“. Das Kaspar Hauser-Syndrom ist einem lebhaften, neugierigen und verschmusten Hund gewichen! Eine tolle Zukunft also für Michi? Nicht ganz, denn zum 100%igen Glück fehlt ihm noch das endgültige schöne Zuhause bei verantwortungsbewussten und liebevollen Zweibeinern.

>>> WUFF – INFORMATION

Kaspar Hauser, 1812-1833

Am Pfingstmontag, dem 26. Mai 1828, wurde in Nürnberg ein junger Mann aufgegriffen, der in seinem Verhalten mehr einem Tier als einem Menschen glich und kaum seinen Namen stammeln konnte. Mit sich trug er den Brief eines Unbekannten: „Ich schücke ihnen einen Knaben, der möchte seinen König getreu dienen … Kasper, gebohren … im 30. Aperil 1812 …“. Seinen Namen will der Schreiber nicht nennen: „Ich mache meinen Namen nicht kuntbar, denn ich konte gestraft werden“. Auffällig war an dem jungen Mann seine Nachtsichtigkeit, die Überreiztheit seiner Sinne, sowie Behinderungen, die auf die Gefangenschaft in einem kleinen, dunklen Raum hinwiesen. Infolgedessen war er unfähig für normale Kontaktaufnahme mit seiner Umwelt.

Als das Gerücht auftauchte, dass Kaspar Hauser als Sohn der Gräfin Hochberg der badische Thronfolger sei, der aus politisch-dynastischen Gründen beiseite geschafft werden sollte, nahm sich der Gerichtspräsident Feuerbach des jungen Mannes an. In weiterer Folge wurde Kaspar unterrichtet und ausgebildet, um einfache Arbeiten als Gerichtsgehilfe erledigen zu können. Der junge Mann wurde zu einer Massenattraktion und zum wissenschaftlichen Forschungsobjekt. 1833 fiel er einem Mordanschlag zum Opfer, dessen genauere Umstände bis heute verborgen sind. Eine 1996 durchgeführte DNS-Untersuchung hat angeblich ergeben, dass er nicht der badische Erbprinz gewesen sein konnte.

Psychische Schäden durch fehlenden menschlichen Kontakt werden daher als „Kaspar Hauser-Syndrom“ bezeichnet. Dieser Begriff wird auch bei Tieren verwendet, die völlig allein, ohne Kontakt mit Artgenossen, und von ihrer normalen Umwelt isoliert, aufwachsen. Synonym wird auch der Begriff „Deprivationssyndrom“ verwendet.

 

>>> WUFF – HINTERGRUND

Der Wesenstest von Michi

Auszüge aus der Verhaltensbeurteilung nach dem Wesenstest für Hunde, durchgeführt am 25.6.2001 auf dem Gelände des Hamburger Tierschutzvereines (HTV):

Der im HTV durchgeführte Wesenstest basiert auf dem von Frau Dr. Dorit Feddersen-Petersen (Universität Kiel) entwickelten Verhaltenstest für Hunde aus Tierheimen. Er besteht aus 37 Testaufgaben. In den Testdurchgängen werden die Hunde mit alltagstypischen Stimuli konfrontiert, darunter solchen, die bekannterweise aggressives Verhalten auslösen können. Aggressives Verhalten gehört zum normalen Verhaltensrepertoire eines Hundes. Hunde müssen aber verschiedenen Reizen adäquat begegnen können, ohne dass es zu Beschädigungskämpfen mit Artgenossen oder Menschen kommt. Aggressives Verhalten muss in seiner Genese nachvollziehbar sein. Ziel des Tests ist, Hunde mit gestörtem Sozialverhalten, insbesondere inadäquatem Aggressionsverhalten, zu erkennen und auszuschließen.


Michi beim Wesenstest

Michi wies im Test deutliche Zeichen sozialer Deprivation auf. Im Gegensatz zu seinem Verhalten im Zwinger, der seinem aus Harburg gewohnten Lebensraum ähnelt, wo er sich entspannt und lebhaft zeigt, verhielt er sich außerhalb des Zwingers extrem ängstlich. Selbst auf Hunde reagierte er zunächst ängstlich. Alle Reize der belebten und unbelebten Umwelt ängstigten ihn stark. Die beschriebene Kaspar-Hauser-Symptomatik kann wohl auf die isolierte Zwingerhaltung in Harburg zurückgeführt werden. Michi benötigt dringend intensive soziale Kontakte sowie eine gezielte Habitation an Umweltreize. Obwohl Michi während des Tests massiv bedrängt wurde, zeigte er keinerlei unangemessenes aggressives Verhalten. Er mied jede Konfrontation und zog sich zurück. Da Michi bei intensiver Beschäftigung Zutrauen fasst, kann von zukünftigen Gefahren für Menschen oder Artgenossen nicht ausgegangen werden. Der Test wurde somit bestanden!